
Was hat Sie bewogen, diese Umfrage zu machen?
Ich habe mich bereits während meiner Forschungsarbeit in Deutschland häufig mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigt. Insofern Antisemitismus eine zentrale Dimension des Rechtsextremismus darstellt, galt mein Interesse entsprechend auch dem Ausmass und den Entwicklungstrends des Antisemitismus. In Deutschland wurden in der Vergangenheit neben Befragungen zu antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung zudem sog. Opferstudien durchgeführt, d.h. Befragungen von Jüdinnen und Juden zu ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen; dies geschah u.a. im Rahmen der europaweiten Studien der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA).
Und in der Schweiz?
Als ich 2015 in die Schweiz wechselte, war ich überrascht, dass in der Schweiz keine vergleichbaren Opferstudien existieren – obwohl in der Schweiz viele Jüdinnen und Juden leben. Als dann Ende 2018 die letzte FRA-Studie zu Ländern der EU veröffentlicht wurde, mit teilweise erschreckenden Ergebnissen – so berichteten bspw. knapp 90 % der befragten Jüdinnen und Juden, dass Antisemitismus im eigenen Land zunimmt – schien es mir an der Zeit, eine Initiative zu starten, bei der mich die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus sofort unterstützt hat.
Wer ist die Zielgruppe dieser Befragung?
Die Befragung richtet sich an all jene Menschen, die sich als Jüdinnen und Juden verstehen, unabhängig davon, wie sie dies begründen (z.B. Religion, Abstammung, kulturelles Erbe, Erziehung), die in der Schweiz leben und die mindestens 16 Jahre alt sind. Wichtig ist: Persönlich erlebter Antisemitismus ist keine Voraussetzung, um an der Befragung teilzunehmen. Die Befragung richtet sich an alle in der Schweiz lebenden Jüdinnen und Juden.
Wie erreichen Sie diese Zielgruppe?
Um repräsentative Befragungen durchzuführen, bräuchte es gemäss Lehrbuch eine sog. Urliste an Personen, die die potenzielle Zielgruppe einer Befragung darstellen. Aus dieser Urliste würde man dann per Zufall eine bestimmte Auswahl bestimmen und diese befragen. Problem ist im Fall unserer Studie, dass es keine solche Liste gibt. Wir müssen daher eine Art Schneeballsystem zur Anwendung bringen. Wir arbeiten einerseits mit jüdischen Medien zusammen. So wird bspw. das Tachles ausführlich auf das Projekt aufmerksam machen, wofür ich sehr dankbar bin. Andererseits werden wir zahlreiche jüdische Gemeinden, Organisationen, Vereine, Geschäfte usw. anmailen oder anschreiben, um auf die Befragung hinzuweisen und darum zu bitten, ihre Mitglieder über die Befragung zu informieren. Dies tun wir im Übrigen sowohl in der deutschsprachigen als auch der französischsprachigen Schweiz. Wir hoffen, dadurch möglichst viele Jüdinnen und Juden zu erreichen und zur Teilnahme zu motivieren.
Wie ist der Fragebogen aufgebaut? Könnten Sie einige Beispiele machen?
Der Fragebogen ist sehr umfangreich, wobei wir diesen nicht vollkommen neu erfunden haben. Wir stützen uns auf den Fragebogen der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, den wir mithilfe von Expertinnen und Experten aus der Schweiz auf die Gegebenheiten hier übertragen und durch weitere Fragen angereichert haben. Dabei ist ein Fragebogen entwickelt worden, der ca. 30 Minuten Ausfüllzeit beansprucht. Ganz grob hat dieser Fragebogen drei Teile. Im ersten Teil fragen wir subjektive Einschätzung zum Antisemitismus in der Schweiz ab. Hier finden sich dann bspw. Fragen wie «Hat der Antisemitismus im Internet Ihrer Ansicht nach abgenommen oder zugenommen?». Ein zweiter, umfangreicher Teil widmet sich den persönlichen Erlebnissen. Hier wird zum Beispiel gefragt, ob man in den letzten fünf Jahren bzw. den letzten 12 Monaten körperlich angegriffen wurde und ob dies damit in Zusammenhang steht, dass man Jude bzw. Jüdin ist. Befragte mit entsprechenden Erlebnissen bitten wir dann darum, uns etwas mehr zu diesem Vorfall zu erzählen, also u.a. dazu, wer der oder die Täter waren, ob man das Erlebnis anderen Personen mitgeteilt hat usw.
Und der dritte Teil?
Der dritte Teil umfasst sozio-demografische Angaben, die uns erlauben, differenzierte Auswertungen der Befragungsdaten vorzunehmen. Wir möchten bspw. wissen, als wie religiös man sich einstuft, ob man bestimmte jüdische Bräuche befolgt usw.
Wie unabhängig können Sie (und Ihr Team) bei der Durchführung dieser Studie agieren?
Die Unabhängigkeit der gesamten Studie ist zweifelsohne gegeben. Wir führen die Befragung nicht im Auftrag von irgendeiner Organisation oder Gemeinde durch, sondern wir haben uns den Auftrag selbst erteilt, weil die Themen Antisemitismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit usw. wichtige Themenfelder des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention sind, welches ich leite. Gleichwohl braucht es zur Durchführung einer solchen Befragung neben methodischen Kenntnissen auch profunde inhaltliche Kenntnisse zum Judentum in der Schweiz. Diese konnte unser Kooperationspartner, die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, einbringen; zudem gab es das Gremium an Expertinnen und Experten, das uns wichtige Inputs für den Fragebogen gegeben hat und später auch, da bin ich mir sicher, wichtige Inputs zur Deutung der Befunde geben wird.
Welche Erkenntnisse erhofft Ihr Euch?
Für mich ist ein zentrales Ziel, dass es zum ersten Mal für die Schweiz eine systematische, unabhängige Studie zu Antisemitismuserfahrungen von Jüdinnen und Juden in der Schweiz gibt. Diese hilft uns, das Ausmass des Problems besser einschätzen zu können. Wir werden wissen, wie verbreitet Ängste und Sorgen in der jüdischen Bevölkerung sind; wir werden zugleich wissen, wie häufig Angriffe – ob verbal oder physisch, ob indirekt oder direkt – auf Jüdinnen und Juden erfolgen. Diese statistischen Daten ermöglichen dann einerseits, dass wir die Situation der Schweiz mit der Situation in anderen europäischen Ländern vergleichen können – hier dient uns die FRA-Studie als Referenz. Andererseits ist damit eine Grundlage geschaffen für spätere Studien. Wenn eine vergleichbare Befragung bspw. in fünf Jahren wiederholt wird, lassen sich Trends identifizieren. Eine Wiederholung würde also das volle Erkenntnispotenzial einer solchen Studie ausschöpfen.
* Prof. Dr. Dirk Baier leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention des Departements Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Lesung und Gespräch zu «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.»
Am 8. Mai 2025 sprechen Judith Coffey und Vivien Laumann im Zollhaus Zürich über ihr Buch «Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen».
Im Buch loten die Autorinnen das Verhältnis von Jüdischsein und weiss-Sein aus und gehen der spezifischen Unsichtbarkeit von Juden:Jüdinnen in der Mehrheitsgesellschaft nach. In Anlehnung an das Konzept der Heteronormativität erlaubt «Gojnormativität», Dominanzverhältnisse in der Gesellschaft zu befragen und so ein anderes Sprechen über Antisemitismus zu etablieren.
Das Buch ist eine Aufforderung zu einem bedingungslosen Einbeziehen von Juden:Jüdinnen in intersektionale Diskurse und Politiken und zugleich ein engagiertes Plädoyer für solidarische Bündnisse und Allianzen.
Wann: 8. Mai 2025 um 19:00 Uhr
Wo: Zollhaus Zürich / online mit Livestream
Sprache: Deutsch und Verdolmetschung in Gebärdensprache (auf Anfrage)
Moderation: Prof. Dr. Amir Dziri
In Kooperation mit: ZIID und feministisch*komplex
>>Tickets kaufen: ZIID Zürcher Institut für interreligiösen Dialog
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