Lebensraum

Lebensraum bedeutet in der Biologie das natürliche Biotop einer Pflanzen- oder Tierart. In die Sozialwissenschaften kam der Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Diskussion um die deutsche Kolonialpolitik. Im Nationalsozialismus war das Schlagwort vom «Lebensraum im Osten» die ideologische Legitimation für den Eroberungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion. Heute meint Lebensraum meist die natürliche, geografische und soziale Umgebung, in der Menschen oder andere Lebewesen leben.

Lebensraum in seiner heutigen Bedeutung ist ein junger Begriff. Das von Jacob und Wilhelm Grimm begründete Deutsche Wörterbuch zitierte noch im Jahr 1879 zu Lebensraum nur den einen Satz von Goethe: «In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigungen hervor, um die Zeit zu töten und den Lebensraum auszufüllen» (aus: «Die Wahlverwandtschaften», 18. Kapitel, erschienen 1809). Lebensraum bedeutete bei Goethe noch den Zeitraum oder eine Zeitspanne des Lebens.

Zu einem geografisch-politischen Begriff wurde «Lebensraum» erst im ausgehenden 19. Jahrhundert, als in Deutschland die Diskussion um die Kolonialpolitik einsetzte. Deutschland, erst 1871 zu einer Nation vereinigt, war im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialmächten spät dran. Im Zeitalter des Imperialismus herrschte in ganz Europa die Meinung vor, Kolonien seien unter anderem auch deshalb nötig, um den Bevölkerungsüberschuss zu «exportieren». Einen prägenden Einfluss auf das deutsche «Lebensraum»-Konzept hatte der Geograf Friedrich Ratzel mit seinen Werken «Politische Geographie» (1897) und «Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie» (1901). In «Der Lebensraum» schreibt Ratzel: «Der viel missbrauchte und noch mehr missverstandene Ausdruck ‹Kampf ums Dasein› meint eigentlich zunächst Kampf um Raum. Denn Raum ist die allererste Lebensbedingung, und an dem Raum misst sich das Mass anderer Lebensbedingungen, vor allem der Nahrung.»

Der Geograf und Theoretiker der Geopolitik Karl Haushofer (1869-1946) führte diesen aggressiven «Lebensraum»-Gedanken weiter – und arbeitete ihn im Dienste der Nationalsozialist:innen aus. Adolf Hitler befasste sich in «Mein Kampf» (1925/1927) an vielen Stellen mit dem Kolonialgedanken: «Nur ein genügend grosser Raum auf dieser Erde sichert einem Volke die Freiheit des Daseins» (S. 728). Und Hitler war schon damals klar, wo sein Deutschland diesen Raum erobern werde: «Nicht West- und nicht Ostorientierung darf das künftige Ziel unserer Aussenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk» (S. 757).
Zeitgleich mit Hitlers «Mein Kampf» erschien 1926 der politische Roman «Volk ohne Raum» von Hans Grimm (1875-1959), einem Sympathisanten der Nationalsozialist:innen. Der 1300 Seiten lange Roman über deutsche Kolonialist:innen in Afrika wurde ein Bestseller und eine «Bibel» der Deutschnationalen.

Parallel zum nationalsozialistischen Eroberungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion entwickelten NS-Planer:innen von 1940 an im Auftrag von SS-Führer Heinrich Himmler den «Generalplan Ost». Er bezweckte die Germanisierung und Kolonisierung von Osteuropa – die Verwirklichung von Hitlers Vorstellungen aus «Mein Kampf». Der Plan blieb aber wegen des Kriegsverlaufes ein theoretisches Konzept.

Im heutigen Gebrauch hat der Begriff Lebensraum diese ideologisch-nationalistische Stossrichtung meisten verloren und meint in der Regel das Biotop von Tieren und Pflanzen oder den geografischen und sozialen Raum, in dem Menschen leben.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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10.04.2024

Diskriminierungsbericht 2023

Der neuste Bericht der GRA und GMS zum Jahr 2023 ist da.

Aufgrund der Ausweitung der Diskriminierungsstrafnorm Art. 261bis des Strafgesetzbuches (StGB) in den letzten Jahrzehnten, auch im Hinblick auf Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung, wurde der Bericht umbenannt und heisst nunmehr „Diskriminierungsbericht“ anstelle von „Rassismusbericht“.

Die umfassende Analyse der jährlichen Diskriminierungsfälle in der Schweiz 2023 zeigt einen sprunghaften Anstieg der antisemitischen Vorfälle nach dem Angriff der Hamas und dem nachfolgenden Krieg in Gaza. Damit einher geht eine zunehmende Sichtbarkeit von allgemein diskriminierenden Taten und Hassreden. Die insgesamt 98 registrierten Vorfälle im Jahr 2023 stellen eine Zunahme um mehr als die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr dar.

Was für Schlüsse daraus zu ziehen sind und welche Konzepte im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus helfen können sind im vollständigen Bericht inklusive Interview mit Hannan Salamat vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) und der dazugehörigen Medienmitteilung zu finden.

 

Diskriminierungsbericht 2023

Medienmitteilung Diskriminierungsbericht 2023

 

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