Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs

Im 20. Jahrhundert wurden die in den vorangegangenen Jahrhunderten tradierten antijüdischen Feindbilder wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Durch den Ersten Weltkrieg veränderte sich der Umgang der schweizerischen Behörden mit Ausländer:innen, ethnische Fragen wurden im Überfremdungsdiskurs wichtiger und die Diskussionen um die Ausgrenzung bestimmter Personengruppen ‒ wie der Jud:innen ‒ erlebten einen Aufschwung. Die Ausländerpolitik zeichnete sich durch eine klar antijüdische Stossrichtung aus und richtete sich mehrheitlich gegen «Ostjuden», die als nicht assimilierbar galten. Hierbei schwang die Angst mit, die Schweizer Eigenart würde durch die Einwanderung von «Ostjuden» – die das Fremde symbolisierten ‒ verloren gehen. In der Zwischenkriegszeit entwickelten sich die «Ostjuden» zum Feindbild schlechthin, ungeachtet dessen, dass diese nummerisch einen sehr kleinen Teil der Gesamtbevölkerung ausmachten. Besagte Überfremdungsangst hatte eine antijüdische Flüchtlings-, Niederlassungs- und Einbürgerungspolitik zur Folge. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die restriktive Flüchtlingspolitik in dieser Tradition reproduziert.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialist:innen in Deutschland im Jahr 1933 war die behördliche Maxime, dass die Schweiz kein Flucht-, sondern bloss ein Durchgangsland sei. Die nationalsozialistische Politik machte Hunderttausende zu Flüchtlingen. Dieser Flüchtlingsstrom führte innerhalb der Schweiz zu den Befürchtungen, dass nun gerade die Zahl jener Ausländer:innen steigen würde, gegen die sich Fremdenabwehr seit Beginn des Jahrhunderts im Speziellen gerichtet hatte. Der Bundesrat wies die Kantone an, dass der permanente Aufenthalt von geflüchteten Jud:innen mit «allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln» verhindert werden sollte.
Die flüchtlingspolitischen Kompetenzen wurden beim Bund zentralisiert, was bedeutete, dass das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) nach dem «Anschluss» Österreichs im Jahre 1938 und dem Scheitern der Konferenz von Evian eine allgemeine Visumspflicht einführen wollte, die die unkontrollierte Flucht von Jud:innen in die Schweiz verhindern sollte. Von einer Visumspflicht wären aber auch nichtjüdische Deutsche betroffen gewesen. Dies wollten die Deutschen verhindern. Deutschland und die Schweiz einigten sich schliesslich auf den deutschen Vorschlag, Pässe deutscher Jud:innen mit einem J-Stempel zu versehen. Jud:innen wurden so an der Grenze sofort erkennbar und konnten abgewiesen werden, trotz des Wissens um die Gefahren, denen diese ausgesetzt waren.

Nach Ausbruch des Krieges wurde allen Ausländer:innen eine Visumspflicht auferlegt. Flüchtlinge, die sich in der Schweiz aufhielten, mussten sich – ganz im Sinne des Selbstverständnisses der Schweiz als Transitland – während der Dauer des Krieges um ihre Weiterwanderung bemühen. Des Weiteren durften sie keiner bezahlten Arbeit nachgehen. Bis 1942 kamen nur noch sehr wenige jüdische Flüchtlinge in die Schweiz. Trotz den behördlichen Anordnungen wurden jene, denen es gelang, «illegal» in die Schweiz zu flüchten, grösstenteils geduldet.

Als die antijüdischen Massnahmen auch in den von NS-Deutschland besetzten Ländern rigoroser wurden und kurz darauf die Deportation in Konzentrationslager im Osten begann, wurde die Schweizer Asylpolitik nicht humaner. Im Gegenteil, obwohl die Behörden ab 1941 von den systematischen Massentötungen und ab 1942 von der organisierten Vernichtung der Jud:innen in Europa wussten, verfügte das EJPD eine totale Grenzsperre. Eine antijüdische «Auslese» sollte vorgenommen werden, «Flüchtlinge nur aus Rassengründen, z.B. Juden» galten nicht mehr als politische Flüchtlinge. Begründet wurde die Entscheidung, diese Flüchtlinge nicht aufzunehmen, mit der Gewährleistung der Lebensmittelversorgung, der innen- und aussenpolitischen Sicherheit, wie auch mit der (vermeintlichen) Unmöglichkeit, die Flüchtlinge zu betreuen, zu kontrollieren und für diese Aufnahmeländer zu finden. Schwerpunkt der Bemühungen der schweizerischen Behörden war es zu diesem Zeitpunkt, für die Stabilität des Landes zu sorgen, es vor Bolschewismus, Krisen und drohenden Gefahren zu schützen sowie die Arbeitslosigkeit zu beschränken. In Folge davon kam es zu Diskussionen in der Schweizer Öffentlichkeit, da immer mehr die systematische Verfolgung und Ermordung abgewiesener jüdischer Flüchtlinge ins Bewusstsein der Bevölkerung drang.

Die Trennung zwischen «rassischen» und politischen Flüchtlingen blieb bis im Juli 1944 bestehen. Erst die Landung der Alliierten in der Normandie löste einen flüchtlingspolitischen Richtungswechsel der schweizerischen Behörden aus. Diese erachteten es von nun an als opportun, als Grund für Asylgewährung auch die Gefährdung von verfolgten Menschen zu akzeptieren.

Aktenkundig nachgewiesen ist, dass mindestens 25 699 Personen, die während des Zweiten Weltkriegs Zuflucht in der Schweiz suchten, an den Grenzen weggewiesen wurden.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2019, unter Mitarbeit von Alice Bloch, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Jüdische Studien in Basel.

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Der neuste Bericht der GRA und GMS zum Jahr 2023 ist da.

Aufgrund der Ausweitung der Diskriminierungsstrafnorm Art. 261bis des Strafgesetzbuches (StGB) in den letzten Jahrzehnten, auch im Hinblick auf Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung, wurde der Bericht umbenannt und heisst nunmehr „Diskriminierungsbericht“ anstelle von „Rassismusbericht“.

Die umfassende Analyse der jährlichen Diskriminierungsfälle in der Schweiz 2023 zeigt einen sprunghaften Anstieg der antisemitischen Vorfälle nach dem Angriff der Hamas und dem nachfolgenden Krieg in Gaza. Damit einher geht eine zunehmende Sichtbarkeit von allgemein diskriminierenden Taten und Hassreden. Die insgesamt 98 registrierten Vorfälle im Jahr 2023 stellen eine Zunahme um mehr als die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr dar.

Was für Schlüsse daraus zu ziehen sind und welche Konzepte im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus helfen können sind im vollständigen Bericht inklusive Interview mit Hannan Salamat vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) und der dazugehörigen Medienmitteilung zu finden.

 

Diskriminierungsbericht 2023

Medienmitteilung Diskriminierungsbericht 2023

 

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