Wir stehen erst am Anfang
03.07.2020

von Dominic Pugatsch

Kürzlich wurde ich in einer Medienanfrage in Zusammenhang mit der Arena-Sendung vom 19. Juni 2020 folgendes gefragt: Ist es Ihrer Meinung nach sinnvoll, bei einer Rassismus-Debatte in der Arena nur schwarze Menschen zu Wort kommen zu lassen?

Die NZZ am Sonntag schrieb am 21. Juni auf ihrem Titelblatt folgendes: «Ob Rassismus oder Gender: Heute bezieht jeder sofort Stellung und haut anderen seine moralische Überlegenheit um die Ohren. Der Schreibende selbst bezeichnete Mohrenkopfproduzent-Dubler in einem kürzlich ausgestrahlten «Talktäglich» auf «Tele Züri» als «Ewiggestrigen» und musste sich dafür Kritik anhören. Es stellt sich offenbar die Frage: Was darf man heute überhaupt noch sagen? Wird einem jetzt mit dem verbalen «Zweihänder» das eigene Wort verboten? Mit anderen Worten: Wie sieht eine ausgewogene Diskussion zum Thema Rassismus aus? Hier einige Gedanken dazu.

Zunächst wärmstens empfohlen sei die Lektüre des GRA-Glossars. Dort finden sich viele sogenannte «belastete» Begriffe, wie z.B. «Judenschule», «Nacht und Nebelaktion» sowie u.a. auch das N-Wort oder «Mohr/Mohrenkopf». Die dortigen Erläuterungen mögen den Leserinnen und Lesern einen ersten Anhaltspunkt liefern oder zumindest zur weiteren inhaltlichen Auseinandersetzung anregen.

Zielführend erscheint daneben auch die Vorgehensweise, welche die abtretende Ombudsfrau der Stadt Zürich – Claudia Kaufmann – in einem Interview mit der NZZ vom 21. Juni exemplarisch vorlebt. Als eine der ersten Personen hat Claudia Kaufmann in der Schweiz das Phänomen «Racial Profiling» thematisiert. Sie hat in ihrer Funktion jedes Jahr Hunderte von Vermittlungen durchgeführt. Ihr Engagement für Rechtsstaatlichkeit und Fairness stösst weit über Zürich hinaus auf grosse Anerkennung; sie hat den Nanny-und-Erich-Fischhof-Preis 2011 für ihren Einsatz gegen Rassismus und gegen Diskriminierung jeglicher Art erhalten und vor zwei Jahren honorierte die Universität Zürich ihre wissenschaftlichen Beiträge und ihre Umsetzungsarbeit zu Fragen der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung mit der Ehrendoktorwürde. Auf Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Krise angesprochen – etwa im Zusammenhang mit der Situation in den Alters- und Pflegezentren – antwortete sie folgendermassen:

«Zunächst hörten wir einfach zu und nahmen Anteil. Ich tauschte mich mit der Direktorin der Alterszentren regelmässig über neue Massnahmen und Lockerungsmöglichkeiten aus. So konnte ich jeweils die nächsten Schritte kommunizieren. Auf die Betroffenen wirkte dies beruhigend und zeigte Perspektiven auf.» Und weiter: «… es gelang mir in der Regel, ihr Verständnis für eine andere Perspektive zu wecken und die verschiedenen Interessen wahrzunehmen. Solche Perspektivenwechsel aufzuzeigen, ist eine unserer Kernaufgaben.»

Die Kernbotschaft ist somit der Perspektivenwechsel. Es geht in der aktuellen Debatte gar nicht darum, was darf ich wann, wie denn überhaupt noch sagen, sondern: höre ich hin, was die Betroffenen sagen? Was sagen sie denn überhaupt? Wie wirken diskriminierende Worte und Handlungen im Alltag auf die Betroffenen? Zuerst einfach einmal hinhören und verstehen, was Minderheiten belastet, wie denn Worte wie «Mohrenkopf», «laut wie in einer Judenschule» oder «ihr Muslime» auf diese wirken. Wenn wir aufmerksam zuhören, Anteil nehmen und dann reflektieren, ja dann ergibt sich der eigene Sprachgebrauch und die gezielte Wortwahl von allein. Aggressivität innerhalb einer Debatte nimmt ab und die Sensibilität gegenüber den Mitmenschen wächst. Michael Bischof, stellvertretender Leiter der Integrationsstelle Zürich und Autor im Rassismusbericht von GRA und GMS schrieb dazu im Berichtsjahr 2018 folgendes:

«Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus werden im beruflichen und privaten Alltag oft erstaunlich faktenfrei geführt. Wer Rassismus thematisiert, stösst auf Distanzierung und Abwehr und muss sich anhören, er oder sie übertreibe und stütze sich letztlich auf subjektive Empfindungen. Zu bedenken ist allerdings, dass Rassismus immer auch ein subjektives, emotionales Erlebnis ist. Ist nicht eines der Anliegen des Anti-Rassismus, Menschen in ihrer Verletzlichkeit und Empfindsamkeit zu achten und zu schützen? Zudem: Woher nehmen diejenigen, die eine zu hohe Empfindlichkeit reklamieren eigentlich ihre Gewissheit? Wäre nicht vielmehr ein Mangel an Feingefühl zu beklagen?»

Später fährt er fort: «… Diskriminierungserfahrungen schwarzer Menschen vergegenwärtigen grauenhafte Traditionen wie Sklaverei, Kolonialismus und die fortwährende Geschichte des antischwarzen Rassismus. Sie müssen entsprechend vor dieser Folie bewertet werden. Wenn sich Kinder und Männer der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft in Zürich-Wiedikon vor einem Verfolger fürchten, ist das vor dem Hintergrund antisemitischer Gewalttaten und Verbrechen zu beurteilen. Ungeachtet der Tatsache, ob der stark alkoholisierte Verfolger von antisemitischen Motiven getrieben oder «bloss betrunken» war. Für die Betroffenen bleibt es – «Alkohol hin oder her» – eine Erfahrung mit Bezug zu ihrem Jüdischsein. Diese Betroffenenperspektive sollte bei der Bewertung anerkannt und entsprechend gewichtet werden

Als ich diese Woche operiert wurde, erwischte der Anästhesieassistent meine Vene nicht auf Anhieb und ärgerte sich bitterlich: «So blöd aber auch, sowas darf mir doch nicht passieren!» Während mir der Narkoseschlauch aufgelegt wurde, dachte ich über seine Worte nach. Ich fragte: «Was meinen Sie damit, woher kommen Sie denn?» «Weil ich doch Secondo bin – wir müssen doppelt und dreifach so gut sein, das sage ich auch meinen Kindern!» Ich bat das Ärzteteam mit dem Ritt ins Nirvana noch kurz zu warten und nahm den Narkoseschlauch ab. Was ich dem Herrn sagte? Ich erläuterte ihm in aller Kürze, was ich in diesem Beitrag ausgeführt habe; also ermutigte ihn, sich mit Stolz am Perspektivenwechsel zu beteiligen, sich nicht zu ducken, sondern hörbar zu machen.

Insofern ist auch die aktuelle Rassismus-Debatte hierzulande durchaus wünschenswert; nicht im Sinne eines sprachpolizeilichen Hickhacks, sondern zur Steigerung der Sensibilität gegenüber den Mitmenschen. Wir stehen erst am Anfang. Schon ein kleiner Perspektivenwechsel genügt!

 

Wir helfen

Vorfall melden

Wurden Sie Zeug:innen eines rassistischen oder antisemitischen Vorfalls oder wurden Sie selbst rassistisch oder antisemitisch beleidigt oder angegriffen?

10.04.2024

Diskriminierungsbericht 2023

Der neuste Bericht der GRA und GMS zum Jahr 2023 ist da.

Aufgrund der Ausweitung der Diskriminierungsstrafnorm Art. 261bis des Strafgesetzbuches (StGB) in den letzten Jahrzehnten, auch im Hinblick auf Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung, wurde der Bericht umbenannt und heisst nunmehr „Diskriminierungsbericht“ anstelle von „Rassismusbericht“.

Die umfassende Analyse der jährlichen Diskriminierungsfälle in der Schweiz 2023 zeigt einen sprunghaften Anstieg der antisemitischen Vorfälle nach dem Angriff der Hamas und dem nachfolgenden Krieg in Gaza. Damit einher geht eine zunehmende Sichtbarkeit von allgemein diskriminierenden Taten und Hassreden. Die insgesamt 98 registrierten Vorfälle im Jahr 2023 stellen eine Zunahme um mehr als die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr dar.

Was für Schlüsse daraus zu ziehen sind und welche Konzepte im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus helfen können sind im vollständigen Bericht inklusive Interview mit Hannan Salamat vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) und der dazugehörigen Medienmitteilung zu finden.

 

Diskriminierungsbericht 2023

Medienmitteilung Diskriminierungsbericht 2023

 

Mehr erfahren
Diskriminierungsbericht 2023
Diskriminierungsbericht 2023
Diskriminierungsbericht 2023
Diskriminierungsbericht 2023
Diskriminierungsbericht 2023