Shtetl

Weitere Begriffe zum Thema Judentum:

Shtetl (Plural Shtetlekh) ist das jiddische Wort für Städtchen und meint im Allgemeinen kleine Marktorte in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg mit einer grossen Jiddisch sprechenden jüdischen Bevölkerung. Rechtlich ist der Begriff Shtetl nichtssagend, da die Jud:innen nicht über die politische Macht verfügten, um Gesetze über den Status einer Siedlung zu verabschieden. Was die jüdische Bevölkerung als Shtetl bezeichnete, konnte im Recht der jeweiligen Regierung einer Stadt, einer Kleinstadt, einer Siedlung oder einem Dorf entsprechen. Das Schtetl war kein von der Obrigkeit zugewiesener und aufgezwungener «Judenbezirk», sondern ein selbst gewählter Ort, an dem sich jüdisches Leben frei entwickelte.

Jud:innen siedelten erstmals im 13. und 14. Jahrhundert auf Einladung polnischer Herrscher in grösserer Zahl in Polen. Die Jud:innen sollten durch ihre Tätigkeit als Münzmeister:innen, Händler:innen und Geldverleiher:innen zur wirtschaftlichen Entwicklung der aufstrebenden polnischen Städte beitragen. Mitte des 16. Jahrhunderts zogen viele Jud:innen in die privaten Städte des polnischen Adels. Der Adel hatte diese Städte als Markt- und Messezentren für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse seiner weitläufigen Landgüter gegründet. Für die Verwaltung dieser wirtschaftlich wachsenden Landgüter warb der Adel Jud:innen an, da diese nicht zu einer politischen Konkurrenz werden konnten und eher bereit waren, in den strukturschwachen Osten Polen-Litauen zu ziehen als die christlichen Bürger:innen der königlichen Städte. Es entwickelte sich ein Pachtsystem (pol. arenda), bei dem der Adlige Besitz (z. B. Land, Mühlen, Brennereien) oder Vorrechte (z.B. Steuererhebung) an einen jüdischen Stellvertreter (pol. arendar) verpachtete.

Neben den Möglichkeiten des Pachtsystems trugen die wirtschaftliche Konkurrenz von Christ:innen in den älteren Städten West- und Zentralpolens sowie der von Kirche und Zünften geschürte Judenhass zur Migration der Jud:innen in die privaten Städte des polnischen Adels in den strukturschwachen Gegenden Polen-Litauens (heute Ostpolen, Ukraine, Weissrussland und Litauen) bei. Die Jud:innen stellten in vielen solcher Städte die Bevölkerungsmehrheit und nannten sie in ihrer Umgangssprache Jiddisch Shtetl. Die jüdische Mehrheit und die christliche Minderheit verkehrten gesellschaftlich meist nicht miteinander – wirtschaftliche Beziehungen und nachbarschaftliche Kontakte gab es jedoch oft. Insbesondere die wöchentlichen Markttage brachten Jud:innen und die christlichen Bäuer:innen aus der Umgebung zusammen. Die Shtetlekh hatten eine jüdische Selbstverwaltung (Kahal) und eine Infrastruktur, die das religiöse und wirtschaftliche Leben der jüdischen Bevölkerung regelte: Bethaus oder Synagoge, Marktplatz und Gasse, rituelles Bad (Mikwe) und Schule (Cheder) waren zentrale Begegnungsorte der jüdischen Gemeinschaft. In den Shtetlekh waren Jud:innen aller Berufsklassen vertreten – vom reichen Unternehmer bis zum Wasserträger. Dies bereicherte die Kultur des Shtetls, führte aber auch zu gesellschaftlichen Spannungen. Mitte des 18. Jahrhunderts lebten von den ca. 750’000 Jud:innen drei Viertel in Städten und Dörfern im Besitz des polnischen Adels.

Nach den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts lagen die meisten Shtetlekh im Russischen Kaiserreich und in der Habsburgermonarchie (hier vor allem in Galizien). Das Siedlungsrecht der Jud:innen im Russischen Kaiserreich wurde auf den sogenannten Ansiedlungsrayon, dessen Gebiet zuvor grösstenteils Bestandteil Polen-Litauens gewesen war, beschränkt. Die Schwächung des polnischen Adels durch die Aufstände gegen die russische Herrschaft und die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) wirkte sich negativ auf die wirtschaftliche Situation der Jud:innen aus. Das Entstehen grosser Städte und bäuerlicher Kooperativen beendeten vielerorts die wirtschaftliche Rolle des Shtetls als Marktplatz. Einige Shtetlekh passten sich durch die Umstellung von Handel zu spezialisiertem Handwerk den neuen Gegebenheiten an. Die Bevölkerungszahlen der Shtetlekh wuchsen dank hoher Geburtenraten und trotz Abwanderung in die grossen Städte des Ansiedlungsrayons und Auswanderung in die Vereinigten Staaten und Westeuropa.

In den meisten Shtetlekh herrschte grosse Armut. Viele Tagelöhner:innen, Handwerker:innen und Kleinhändler:innen konnten sich und ihre meist zahlreichen Kinder nur mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten. Die Ärmsten der Armen wurden auf Jiddisch «luftmentshn» genannt, weil sie ohne Einkommen – und oft auch ohne den praktischen Sinn fürs Berufsleben – von «Luft» lebten. Im Shtetl waren die traditionellen Werte der Frömmigkeit, Gelehrtheit und Wohltätigkeit hochgeachtet und verschafften soziales Ansehen. Die Jud:innen des Shtetl verband eine grundsätzliche Solidarität gegen Angriffe von aussen – gegen Versuche des Staates, in die Selbstverwaltung des Shtetl einzugreifen und gegen judenfeindliche Übergriffe, die oft von der Kirche geschürt wurden. Das Leben im Shtetl war von Tradition und Religion geprägt und die soziale Kontrolle war hoch. Die innere Solidarität wurde im 19. und 20. Jahrhundert durch religiöse Differenzen, die jüdische Aufklärung (Haskala), den Sozialismus, Kommunismus und Zionismus zunehmend Zerreissproben ausgesetzt: Traditionalist:innen und Aufklärer:innen, Assimilierte und Chassidim, Sozialist:innen und Zionist:innen verschiedenster Ausprägung standen oft im Konflikt miteinander.

Nach dem Ersten Weltkrieg lagen die meisten Shtetlekh auf dem Gebiet der Zweiten Polnischen Republik und der Sowjetunion. In den polnischen Shtetlekh verstärkten sich die Spannungen zwischen den verschiedenen religiösen und politischen Gruppierungen. Trotz einer zunehmenden Säkularisierung besuchten die Jud:innen im Shtetl öfter die Synagoge als ihre Glaubensgeschwister in den Städten. In der Sowjetunion beendete die Kollektivierung der Landwirtschaft die traditionelle Rolle des Shtetl als Marktplatz endgültig. Die sowjetische Regierung schloss Synagogen und verbot politische Aktivität ausserhalb der Kommunistischen Partei.

Die Shoah zerstörte die traditionelle Welt des Shtetls. In der Erinnerung wird das Shtetl als Ort authentischen jüdischen Lebens oft nostalgisch verklärt. Unvorteilhafte Details über das Shtetl und seine Bewohner werden weggelassen. Das Shtetl erscheint, als sei es vom Weltgeschehen unberührt gewesen. Eine ebenfalls verklärende Darstellung des Shtetl als Bastion des traditionellen Judentums existiert seit dem 19. Jahrhundert in der jiddischen und hebräischen Literatur. Daneben beschrieben sogenannte Maskilim (Anhänger der jüdischen Aufklärung) das Shtetl als planlos gebauten Ort mit krummen Strassen und ineinander verschachtelten Häusern.

Gemeinsam ist diesen Darstellungen, dass das Shtetl oft als Ort mit einer ausschliesslich jüdischen Bevölkerung beschrieben wird. Die Vergangenheit des Shtetl als Planstadt eines polnischen Adligen findet keine Erwähnung.

Siehe auch den Begriff Ghetto.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2019, unter Mitarbeit von Sarah Durrer, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Jüdische Studien in Basel.

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13.12.2023

«Nicht bei uns! Gegen Rassismus und Antisemitismus»

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In sozialen Medien, insbesondere Instagram, sowie in Printmedien wird die Kampagne ebenfalls zu sehen sein.

Hier geht es zu mehr Infos über die Kampagne und den Plakaten als Download.

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