Neues der GRA

23.09.2021

Eine Armee für alle?

Wo steht die Schweizer Armee in Bezug auf Prävention von Rassismus und Antisemitismus?

Wie ist es um die Diversität bestellt und welche Massnahmen und Projekte setzt die Armee in diesem Zusammenhang um?

Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Referats von Korpskommandant Hans-Peter Walser, Chef des Kommando Ausbildung der Schweizer Armee, welches er während der diesjährigen Jahresversammlung der GRA hielt.

Anlass zu seinem Referat gab der «Fall Benjamin», der die Schweizer Armee Anfang des Jahres in die Schlagzeile brachte. Ohne Wissen um seinen jüdischen Hintergrund, machten seine Kameraden immer wieder antisemitische Witze, teilten Holocaustrelativierende Inhalte digital im «Zimmerchat» und zitierten nationalsozialistische Symbole. Auch wenn der Rekrut Benjamin nicht direkt mit diesen Aktionen angefeindet wurde, schufen diese eine toxische Atmosphäre, in der er nicht länger ausharren konnte. Bei seiner Suche nach Unterstützung fühlte er sich von der Armee im Stich gelassen und brach schlussendlich seinen Militärdienst ab, um in den Zivildienst zu wechseln.

Dieses Beispiel ist wohl kein Einzelfall. Denn wie Korpskommandant Walser in seinem Referat betonte, kann die Schweizer Armee als “Melting Pot” betrachtet werden, wo sich ein Querschnitt des (männlichen) Teils unserer Gesellschaft zusammenfindet, unabhängig von Herkunft, Sprache, Ausbildung, Religion oder Geschlecht. Hier spiegeln sich auch die Probleme der Gesellschaft wider – inklusive fremdenfeindlicher oder diskriminierender Gesinnungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es auch in der Schweizer Armee hin und wieder zu rassistischen oder antisemitischen Vorfällen kommt. Zwar ist die Anzahl der gemeldeten Fälle eher klein, im Jahr 2020 waren es 26 Meldungen bei einer Rekrutenanzahl von mehr als 20 000, doch auch hier gilt: Die Dunkelziffer dürfte grösser sein und jeder einzelne Fall ist einer zu viel.

Um auf solche Fälle in Zukunft besser reagieren zu können, hat die Armee nun verschiedene Angebote und Projekte erarbeitet.

Zu den Neuerungen in der Armee gehören eine unabhängige Vertrauensstelle auf Stufe Department, welche die Armeeangehörigen bei Problemen im Zusammenhang mit dem Militärdienst beraten wird. Ebenfalls wird ab Januar 2022 eine Fachstelle «Frauen in der Armee und Diversity» entstehen.

Als Reaktion auf den «Fall Benjamin» hat die Schweizer Armee ein Pilotprojekt entwickelt, das im Sommer 2021 unter dem Titel «Sensibilisierung zu Diversität und Inklusion in der Armee», kurz SEDIA, durchgeführt wurde.

In seinem Referat betonte Korpskommandant Walser, dass extremistisches Gedankengut in der Schweizer Armee keinen Platz habe und eine Null-Toleranz gegenüber jeglicher Form von Diskriminierung gelte. Dieser Grundsatz sei unerschütterlich und werde auch so kommuniziert. Denn der Artikel 171c des Militärstrafgesetzes und der gleichlautende Artikel 261bis des schweizerischen Strafgesetzbuches verbieten die Diskriminierung von Menschen und den Aufruf zu Hass, namentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung.

Wie der «Fall Benjamin» zeigt, fruchtet die Aufklärung und Sensibilisierung innerhalb der Armee nicht bei allen gleich und es gibt momentan noch eine Diskrepanz zwischen der Theorie und Praxis. Dennoch verfolgt die Armee das Ziel konsequent, die Armeemitglieder für die Themen Diversität, Rassismus und Sexismus zu sensibilisieren und Angebote für Armeeangehörige auszubauen.

Korpskommandant Walser ist sich bewusst, dass die Schweizer Armee allein nicht die Probleme einer ganzen Gesellschaft lösen könne und dass die wenigen Wochen der Rekrutenschule nicht ausreichen würden, um die jungen Rekruten und Rekrutinnen umzuerziehen, sollten sie bereits fremdenfeindliches Gedankengut hegen. Jedoch betonte er, dass die Armee bemüht sei, mit Hilfe verschiedener Massnahmen und Projekte in ihren eigenen Reihen eine tolerante Atmosphäre zu schaffen. Denn «Diversität, Inklusion, aber auch Rassismus, Antisemitismus oder Diskriminierung jeglicher Art sind ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir brauchen gesamtgesellschaftliche Veränderungen, damit sich für potenziell diskriminierte Personengruppen nachhaltig etwas verbessert.»

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24.08.2021

Antisemitismus im Alltag bekämpfen. Das neue Bildungstool der GRA

Eine aktuelle Studie der ZHAW hat gezeigt, dass die Hälfte der jüdischen Personen in der Schweiz in den letzten fünf Jahren Antisemitismus erlebt hat. Ein Grossteil dieser Vorfälle ereignen sich im Alltag – also im Freundeskreis, in der Schule oder bei der Arbeit.

Gerade für junge Menschen sind diese Situationen nicht leicht und die passende Antwort im richtigen Moment nicht abrufbar. Es braucht eine gute Portion Selbstvertrauen und manchmal auch ganz schön Mut, um sich gegen Vorurteile und antijüdische Einstellungen zu wehren. Das von der GRA – Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus entwickelte Bildungsprojekt «Antisemitismus im Alltag begegnen» bietet jungen Menschen «spielerisch» die Möglichkeit – zusammen mit ihren Peers – Reaktionsmöglichkeiten bei Alltagsantisemitismus zu besprechen und selbstbewusstes und zielführendes Handeln in der Gruppe zu üben. Die auf der von der GRA entwickelten Website www.stopantisemitismus.ch aufgeführten antisemitischen Zitate aus dem Schweizer Alltag dienen dabei als Grundlage.

Die Spielkarten stehen hier als Download zur Verfügung.

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18.07.2021

„Vergleiche mit dem Holocaust haben zugenommen“

Vandalen sprayten «Impfen macht frei» an die Wand neben der Bushaltestelle Sonnenberg in Thalwil, dahinter ein Hakenkreuz. Die Formulierung erinnert an die Aufschrift «Arbeit macht frei», die über den Konzentrationslagern Auschwitz und Dachau prangte. Dass die aktuelle Impfkampagne des Bundes gegen das Coronavirus mit dem Holocaust verglichen werde, sei absurd, sagt Dina Wyler, die Geschäftsführerin der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA).

Das ganze Interview lesen Sie hier.

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05.07.2021

Sekten – Wenn die Glaubensfrage zum Konflikt wird

Was ist der Unterschied zwischen einer Religion und einer Sekte? Sind Rechtsextremismus oder Islamismus nichts anderes als politisch motivierte Sekten? Kann man Impfgegner bereits als Teil einer Sekte bezeichnen? Wie gross ist das Gefahrenpotenzial von Sekten? Und wer ist gefährdet? Die Psychologin Susanne Schaaf arbeitet seit 30 Jahren bei der Beratungsstelle infoSekta und liefert Antworten auf diese Fragen.

Weiterführende Links:

www.infosekta.ch

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02.06.2021

Umgang mit Verschwörungstheorien

Die GRA publiziert regelmässig Informationsflyer für Lehrpersonen zu verschiedenen Themen. Der aktuelle Flyer beschäftigt sich mit Verschwörungstheorien.
Mit der anhaltenden Corona-Pandemie verbreitet sich nicht nur das Virus wie ein Lauffeuer, sondern auch Verschwörungstheorien, die eine kleine, mächtige Elite als Ursprung und Profiteure der Krise vermuten. Was haben viele Verschwörungstheorien gemeinsam? Weshalb glauben manche Leute an solche Erzählungen? Wieso können bestimmte Verschwörungstheorien gefährlich sein? Und wieso enthalten so viele Verschwörungstheorien antisemitische Narrative? Wir liefern Antworten auf diese Fragen und erklären die Hintergründe bestimmter Begriffe, die im Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen immer wieder fallen und oftmals antisemitische Untertöne aufweisen.
Alle Infos finden Sie hier:
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31.05.2021

Rassismus vorprogrammiert?

Ob Krankenkassenprämien, Jobchancen oder Polizeikontrollen. Durch ihre Neutralität, Emotionslosigkeit und Reproduzierbarkeit können Algorithmen eine grosse Chance sein in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung, da sie im Gegensatz zu Menschen nicht basierend auf (unbewussten) Vorurteilen Entscheidungen treffen. Doch Studien zeigen, dass Algorithmen nicht nur bestehende Ungleichheiten reproduzieren, sondern sogar zu mehr Diskriminierung führen können. Mehr dazu in der aktuellen Podcastfolge mit Professor Christoph Heitz von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW).
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30.04.2021

Die Juden von heute

Ein neues Phänomen geistert durch die von Pandemien, Klimawandel und Finanzkrisen geplagte Gesellschaft. Es trägt den Namen Holocaustrelativierung. Dabei spielt die politische Gesinnung keine Rolle. Ob Adolf Muschg, der die Cancel Culture als eine Form von Auschwitz bezeichnet oder ein Lausanner Gemeinderatskandidat, der das Burkaverbot als Vorbote neuerlicher Nazigreuel sieht. Sie alle meinen, das Schreckgespenst Holocaust in den für sie relevanten politischen Debatten zu erkennen. Die wohl prominentesten Exponenten dieses Phänomens sind die sogenannten Corona-Demonstranten und Demonstrantinnen. Woche für Woche ziehen sie durch Schweizer Städte und stellen mit irritierendem Stolz den gelben Judenstern auf der Brust zur Schau. All diese Beispiele zeigen: Jeder, der sich heutzutage in irgendeiner Weise benachteiligt fühlt, outet sich gleich als «der Jude von heute».

Während der Aufschrei bei diesen und ähnlichen Vorfällen mal grösser und mal kleiner ausfällt, versucht kaum jemand zu erklären, warum diese Vergleiche so gerne gemacht werden und weshalb das nicht nur verwerflich ist, sondern sogar gefährlich sein kann.

Instrumentalisierung für eigene Zwecke

Im harmlosesten Fall fehlt es den Menschen, die solche Vergleiche machen, am nötigen Geschichtsverständnis. Diesem könnte man immerhin mit gezielter Bildungsarbeit nachhelfen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass die Shoah bewusst und willentlich instrumentalisiert wird. Denn der «Holocauststempel» zieht immer: Nichts symbolisiert die Stilisierung zum geläuterten Opfer besser als ein gelber Judenstern auf der Brust oder die mit Schrecken behafteten Namen früherer Vernichtungslager.

Dass diese Taktik nicht nur billige Propaganda für die eigene politische Agenda ist, sondern auch schmerzhaft für Überlebende der Shoah, scheint diesen Leuten egal zu sein. Was sie aber nicht verstehen, ist, dass die Judensterne und Auschwitz kein Symbol für unbeliebte Meinungen sind, für die man kritisiert wird. Sie stehen für die Markierung von Menschen, die zu staatlich orchestriertem Massenmord verurteilt wurden und damit ihr Recht auf Leben und Menschenwürde von einem Tag auf den anderen verloren. Dass man für eine kontroverse Meinung (die in der Demokratie, in der wir leben, immer noch straflos geäussert werden kann) öffentlich angeprangert, ja vielleicht sogar beleidigt und diffamiert wird, ist vielleicht die Schattenseite der gegenwärtig vorherrschenden Empörungskultur – sie ist aber definitiv nicht gleichzusetzen mit einem Genozid.

Relativierung führt zu Verharmlosung

Dass solche Vergleiche nicht nur verwerflich, sondern auch gefährlich sein können, wurde in der hitzig geführten Debatte der letzten Tage viel zu wenig betont. Denn auch wenn der Holocaust mit solchen Vergleichen nicht direkt geleugnet wird, relativiert man ihn. Zweifelllos müssen Vergleiche zu anderen Massenmorden möglich sein – schon allein mit dem Ziel, aus der Vergangenheit zu lernen. Wer aber unterstellt, dass aktuelle Phänomene wie die geltenden Hygienemassnahmen oder eine selbsternannte Sprachpolizei auch nur im Ansatz den damaligen Zuständen ähneln, setzt den Keim zur Frage, ob die Lage der Juden damals wirklich so schlimm war, oder ob sich diese einfach etwas vehementer hätten wehren sollen. Solche Zustände sind mancherorts bereits Realität. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus den USA ergab, dass knapp ein Viertel der Jugendlichen glauben, die Erzählungen über den Holocaust seien übertrieben. Gleichzeitig gaben in Deutschland in einer 2018 durchgeführten Studie rund 40 Prozent der 18 bis 34-Jährigen an, „wenig“ oder „gar nichts“ über die Shoah zu wissen. Was die direkte Folge davon sind, zeigt eine aktuelle Studie der ZHAW. Darin gab jede zehnte jüdische Person in der Schweiz an, von nicht-jüdischen Menschen schon gehört zu haben, der Holocaust sei ein Mythos oder werde übertrieben dargestellt.

Bis die Klinge stumpf ist

Momentan diskutiert der Bundesrat über ein nationales Holocaustdenkmal in Bern. In Anbetracht der immer wiederkehrenden Instrumentalisierung der Shoah, erweist es sich als zwingend, eine Erinnerungskultur zu fördern, die nicht nur gedenkt, sondern auch kontextualisiert. Nur so lässt sich verhindern, dass Vergleiche mit dem Holocaust zu einer politischen Waffe verkümmern, die jedes politische Lager benutzt, bis die Klinge so stumpf ist, dass sie bei einem tatsächlichen Angriff auf unsere Demokratie nicht mehr schneidet.

Mehr über Holocaustvergleiche lesen Sie im aktuellen Antisemitismusbericht.
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21.04.2021

Neue Podcastfolge: Feminismus 2.0

Nach dem Frauenstreik 1991 blieb es lange ruhig beim Thema Feminismus. Die Generation Y schien die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern wenig zu interessieren – und schon gar nicht zu politisieren. Das änderte sich kürzlich. 2019 gingen Hunderttausende auf die Strasse und zeigten damit klar: Feminismus ist zurück auf der politischen Agenda. Diese Kehrtwende manifestierte sich ebenfalls in der jüngsten nationalen Abstimmung, als zwei Frauenkomitees beim sogenannten Burkaverbot zu mobilisieren versuchten – mit gegenteiliger Message. Während das Ja-Lager aus einigen bekannten Politikerinnen bestand, mobilisierte das Nein-Komitee innerhalb weniger Tage über 700 Frauen aus allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kreisen. Wer hinter dem Komitee steht und welche politischen Ziele sie als nächstes verfolgen, erklärt Elena Michel, Co-Gründerin des Frauenkomitees. 
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Weiterführende Links: www.donnefemmesfrauen.ch
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30.03.2021

Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert

Welchen Zweck erfüllt die Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert? Welche Chancen und Gefahren bieten Erinnern und Vergessen? Und wie soll Erinnerungskultur aussehen, in einer Zeit in der die Zeitzeugen nach und nach verstummen, damit sich auch kommende Generationen angesprochen fühlen? Diesen Fragen stellten sich die GRA Geschäftsleiterin Dina Wyler und der Historiker Jakob Tanner im Gespräch moderiert von Heinz Nigg. Das ganze Gespräch finden Sie auf dem Kosmopolitics Youtube Kanal.

 

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24.03.2021

Verschwörungstheorien in Zeiten gesellschaftlicher Krisen: Wenn Esoterik und Rechtspopulismus aufeinandertreffen

Seit einigen Jahren forsche ich zum Thema «Alternativmedien», worunter Nachrichtenmedien zu verstehen sind, die sich gegen die politische und mediale Öffentlichkeit, den so genannten «Mainstream» richten. Als gegenöffentliche Gruppierungen erlangten sie in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit Begriffen wie «Fake News» bzw. «Desinformation» oder «Verschwörung» öffentliche Aufmerksamkeit und werden als ernst zu nehmende Gefahr für die soziale Ordnung respektive Demokratie betrachtet. Die absichtliche Verbreitung falscher Nachrichten («Fake News») evoziert schliesslich eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, die demokratische Willensbildung ist gefährdet und das Vertrauen in Institutionen (wie Politik oder Medien) wird brüchig.

Verschwörungstheorien sind in diesem Zusammenhang jedoch differenziert zu betrachten. Verschwörungstheorien vereinen im Kern die Annahme, dass gesellschaftliche Ereignisse miteinander verwoben sind und im Geheimen von – meist elitären – Gruppen gesteuert werden; nichts passiert zufällig. Verschwörungstheorien existieren seit jeher, so wurden im Mittelalter Hexen als vermeintliche Verursacherinnen von Naturkatastrophen verfolgt. In den vergangenen Jahren sammelten sich beispielsweise nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zahlreiche Verschwörungstheorien, wonach das Attentat geplant gewesen wäre, oder auch im Zuge der Flüchtlingsbewegungen 2015, als u. a. antisemitische Theorien verbreitet wurden, wonach Juden die Migrationsbewegungen bewusst steuern würden.

In besonderem Masse mit dem Thema Verschwörung konfrontiert wurden wir jüngst im Zuge des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie. Bill Gates, George Soros und weitere elitäre (häufig jüdische) Personen würden eine neue Weltordnung planen, das Virus solle in einem Labor gezüchtet worden sein, mit dem Ziel einer Zwangsimpfung und Überwachung der Gesellschaft durch injizierte Mikrochips – um nur beispielhafte Mythen aufzuzählen.

In Abgrenzung zur absichtlichen Verbreitung von Falschinformationen ist im Fall von Verschwörungstheorien häufig nicht empirisch belegt, ob die Theorie tatsächlich wahr oder falsch ist. Insofern existieren auch Theorien, die sich im Nachhinein als wahr entpuppten, wie beispielsweise die Watergate-Affäre in den 1970er Jahren. Dies ist allerdings eine weniger Ausnahmen.

Die Verbreiter_innen von Verschwörungstheorien sind indes häufig davon überzeugt, dass ihre Theorien der Wahrheit entsprechen und erachten es als ihre gesellschaftliche Aufklärungsfunktion, möglichst viele davon zu überzeugen. Gefahren für die demokratische Ordnung ergeben sich jedoch insbesondere dann, wenn Gegenbeweise existieren, die Theorien also empirisch falsch sind, und ein rationaler Diskurs darüber nicht mehr möglich ist; wenn Verschwörungstheorien eine Polarisierung der Gesellschaft befördern, indem z. B. Gruppen diffamiert werden – beispielsweise Jüdinnen und Juden.

 

Länderübergreifende Vernetzung

In den vergangenen Jahren erlebten wir einen gefühlten «Aufschwung» verschwörungstheoretischer Narrative. Dies hat mehrere Gründe: Einerseits wurde es durch die Etablierung von Social-Media-Plattformen für Lai_innen möglich, Inhalte – wie auch gegenöffentliche Meinungen – ohne Überprüfung zu verbreiten. Auch das Teilen von verschwörungstheoretischen Beiträgen, z.B. über Videoformate, wurde dadurch um vieles einfacher. Die algorithmische Selektion durch die Plattformen und damit einhergehende «Vorschläge» von Beiträgen, die den eigenen Interessen entsprechen, können dabei zu einer Art Sogwirkung dieser skandalisierenden und emotionalisierenden Beiträge führen. Andererseits befördern gesellschaftliche Krisen einen Aufschwung alternativer Deutungsmuster, wie beispielsweise im Zuge der COVID-19-Pandemie deutlich wurde. Krisenphasen sind geprägt von Gefühlen der Unsicherheit und Ängsten des Kontrollverlustes, offizielle Statements der Regierungen werden fallweise nicht mehr als zufriedenstellend betrachtet (van Prooijen & Douglas, 2017). Bürger_innen suchen nach Antworten für komplexe Sachverhalte. Die Bereitschaft, für alternative Narrative – beispielsweise in Form von Verschwörungstheorien – empfänglich zu werden, steigt: «Schuldige» hinter der Krise werden gesucht. Gerade diese Suche nach «Sündenböcken» ist für moderne Gesellschaften besonders problematisch. Es etabliert sich eine «Gut»- vs. «Böse»-Semantik, Gesellschaftsgruppen werden diskreditiert.

Inwieweit Verschwörungstheorien in der Schweiz deutungsmächtig sind, ist schwierig zu beurteilen. Vielmehr handelt es sich um einzelne Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die affin gegenüber solcher Verschwörungsmythen sind und sich – beispielsweise mithilfe digitaler Möglichkeiten – miteinander vernetzen. Es ist davon auszugehen, dass es sich dabei um einen kleineren Ausschnitt der Gesellschaft handelt, der allerdings, z. B. mittels Protestaktionen und Demonstrationen, «am lautesten schreit» und somit auf mediale Resonanz stösst. Nicht zu unterschätzen ist dennoch die länderübergreifende Vernetzung jener Gruppierungen, sei es über Websites oder Social-Media-Plattformen. Schweizer Websites mit verschwörungstheoretischem Charakter lassen sich zwar an einer Hand abzählen – so beispielsweise die Seite Uncut-News mit über 800’000 monatlichen Zugriffen –, im Ländervergleich mehren sich einschlägige Seiten beispielsweise aus Deutschland jedoch beachtlich – und werden mitunter von Schweizerinnen und Schweizern häufig genutzt. So z.B. die deutsche Plattform KenFM, die durch Ken Jebsen betrieben wird, der mitunter schon mit antisemitischen Beiträgen für Aufregung gesorgt hat[1]. Verschwörungstheoretische Medien werden häufig von Lai_innen produziert, was sich auch in laienhaftem, oft düsterem Design widerspiegelt: so spielt beispielsweise die Schweizer Website Alles Schall und Rauch mit der Symbolik einer in Flammen aufgehenden Welt. Thematisch fokussiert werden neben Verschwörungsmythen auch spirituelle und esoterische Themen, wie beispielweise Alternativmedizin.

 

Allianzen von links bis rechts

Obwohl wissenschaftlich belegt ist, dass u. a. rechtspopulistische Einstellungen einen Einfluss auf die Affinität gegenüber Verschwörungstheorien haben können (Castanho Silva, Vegetti & Littvay, 2017)[2], zeigt sich im Zuge der Corona-Pandemie mitunter ein differenzierteres Bild. Medial diskutiert wurde beispielsweise die Corona-Demonstration in Berlin im Herbst 2020, als Demonstrant_innen mit Deutschen Reichsflaggen ihr Unbehagen kundgetan haben – nur wenige Meter entfernt davon Demonstrant_innen mit Regenbogenflaggen in der Hand. Obgleich es sich hierbei um ein paradoxes Bild handelt, wird gleichzeitig deutlich, dass das gemeinsame Thema – die Kritik an Corona-Massnahmen – als kleinster gemeinsamer Nenner neue Gemeinschaften bildet. Die politische Gesinnung scheint dabei eine geringere Rolle einzunehmen, vielmehr gilt es, gegen das gemeinsame «Feindbild» aufzustehen. Dabei können sich die jeweiligen Motive für eine Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen stark voneinander unterscheiden: Nicht alle Demonstrationsteilnehmenden verbindet der Glaube an Verschwörungstheorien. Und auch der Glaube an jene Mythen kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, gibt es schliesslich mittlerweile eine Vielzahl davon.

Neben der Gefahr einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung birgt die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien im Zuge dieser Pandemie für alle Bürger_innen ein weiteres ernst zu nehmendes Risiko. Studien konnten bereits belegen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien Einfluss auf das subjektive Handeln haben könne: So würden Personen, die an Verschwörungstheorien mit Bezug auf den Klimawandel glauben, weniger auf ihren ökologischen Fussabdruck achten (Jolley & Douglas, 2014; van der Linden, 2015). Aktuelle Befunde zeigen weiter, dass der Glaube an eine Corona-Verschwörung mit dem Nichteinhalten von Massnahmen einhergehen könne (Pummerer et al., 2020) – was schlussendlich unser aller Gesundheit gefährden würde.

Viele von uns erreichten in den letzten Monaten verschwörungstheoretische Beiträge, beispielweise über Messenger-Dienste, von Personen aus dem Bekanntenkreis. Auch als Forscherin zum Thema «Verschwörung» ist man umso bestürzter, wenn man auch im Privaten damit konfrontiert wird. Prinzipiell scheint jede_r für den Glauben an Verschwörungen empfänglich zu sein, der/die stark mit Gefühlen der Unsicherheit und Ängsten während der Krise zu kämpfen hat. Die Frage, wie man in diesem Fall am besten reagieren soll, ist schwierig, zumal jeder Versuch, eine Verschwörungstheorie aufzudecken, von Anhänger_innen als weiterer Beweis für die Wahrheit der Theorie gedeutet werden kann. Ich sehe es dennoch als wesentlich, sich auf einen möglichst respektvollen Diskurs einzulassen, um jene abzuholen, die für rationale Argumente überhaupt noch empfänglich sind. Dabei ist es wesentlich, die Ängste dieser Personen ernst zu nehmen und diese nicht ins Lächerliche zu ziehen; Fragen zu stellen und nicht zu schnell aufzugeben. Dies bedeutet Arbeit für uns alle und wird realistischerweise nicht immer gelingen. Gerade aber bei Personen, die uns nahestehen, sollten wir uns die Mühe machen.

[1] Z. B. https://www.belltower.news/kenfm-ken-jebsen-der-gefaehrliche-querfront-demagoge-99419/

[2] Wenn auch strittig, so konnten weitere Studien keinen politischen Einfluss bestätigen (z. B. Oliver und Wood (2014)).

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22.03.2021

Rassismusbericht 2020 jetzt online!

Der neue Rassismusbericht der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz thematisiert anlässlich des Internationalen Tages gegen Rassismus rassistische Vorfälle des vergangenen Jahres. Die Covid19-Pandemie gab antisemitischen Verschwörungstheorien Aufschwung. Aber auch die «Black Lives Matter»-Bewegung hatte einen Einfluss auf die hiesige Rassismusdebatte.

Hier zum gesamten Rassismusbericht 2020

 

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18.03.2021

Interview mit Cédric Wermuth: Antisemitische Verschwörungsfantasien und deren Dynamik in einer Welt in der Krise

Herr Wermuth, im Juni 2020 haben Sie eine Interpellation im Nationalrat eingereicht und den Bundesrat gefragt, wie er der Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien entgegenwirken will. Warum ist Ihnen dieses Thema ein Anliegen?

Die Auseinandersetzung mit Neonazi-Gruppen an meiner Schule hat mich vor über 20 Jahren erstmals so richtig politisiert. Seither setzte ich mich immer wieder mit der Szene auseinander. Sie hat sich stark verändert. Den klassischen Neonazi mit Springerstiefeln und Glatze gibt es so nur noch am Rand, aber viel vom rechtsextremen Gedankengut hat sich erschreckend tief in die Gesellschaft eingegraben. An der Uni durfte ich zu antisemitischen Verschwörungstheorien etwas vertiefter arbeiten, insbesondere zu den «Weisen von Zion». Das war so 2005 oder 2006. Social Media und Youtube etc. begannen gerade so langsam interessant zu werden. Ich weiss noch, wie es mir damals kalt den Rücken runter lief, als ich festgestellt habe, welche Kontinuität antisemitische Verschwörungsmythen bis heute haben – übrigens in allen gesellschaftlichen Kreisen. Das Thema hat mich nie mehr losgelassen. Durch die Geschichte zeigt sich, dass der Glaube an eine bösartige Weltverschwörung praktisch immer am Rande durch die Gesellschaft geistert. Und in Zeiten der Krise kann sich das schlagartig wie Feuer verbreiten, egal wie marginal die Gruppen vorher waren. Und es ist leider so: Auch wenn es überall in der Gesellschaft antisemitische Vorurteile gibt ‒ auch bei Linken ‒, sind es jedes Mal rechtsextreme Gruppen, der die Ideologie besonders anschlussfähig scheint. Richtig Angst habe ich, seit wir im Parlament kurz vor den letzten Wahlen eine Debatte zum Uno-Migrationspakt hatten und plötzlich Vertreter völlig vernünftiger bürgerlicher Parteien Thesen aus dem Dunstkreis der «Umvolkungstheorie» vertraten. Solche und ähnliche ‒ im Kern nichts anderes als die «modernisierte» Versionen einer jüdisch- bolschewistischen Weltverschwörung ‒ finden sich heute praktisch jeden zweiten Tag in Meinungsbeiträgen von ganz normalen Schweizer Tageszeitungen. Zum Beispiel, wenn man sich dort über die Dominanz des «Gender- Wahns» und der «Kulturmarxisten» beklagt. Das zeigt, wie tief das Problem in der Gesellschaft verankert ist.

Was kann die Politik unternehmen, um Verschwörungstheorien möglichst an ihrer Verbreitung zu hindern? Wo findet Prävention schon heute statt, wo und wie könnte sie verbessert werden?

Wichtig ist, dass man das ernst nimmt. Menschen, die an das glauben, was wir Verschwörungstheorien nennen, sind nicht verrückt. Klar gibt es auch individuelle Gründe, aber als Erklärung für die breite Bewegung, die wir heute sehen, reicht das nicht. Das Problem ist in der Mitte der Gesellschaft. Der Griff zu Verschwörungsmythen ist oft Ausdruck eines völlig richtigen Bedürfnisses, nämlich das eigene Schicksal beeinflussen zu können und es nicht von anonymen Kräften wie «den Finanzmärkten» diktieren zu lassen. In dem Sinne weisen uns Verschwörungsmythen immer auch auf eine Lücke in der Politik hin: Dann nämlich, wenn das politische System nicht in der Lage ist, legitime Kritik aufzunehmen. Das heisst, grundsätzlich muss demokratische Politik das tun, was man von ihr erwartet: Das Leben der Menschen verbessern. Dann gibt es die zweite, individuelle Ebene. Hier ist die Schweiz ‒ sorry ‒ein Entwicklungsland. Es gibt viel zu wenig Stellen, an die ich mich wenden kann, wenn Familienangehörige in den Sumpf solcher Mythen abrutschen. Daran müssen wir arbeiten.

Wie ernst nehmen Schweizer Politiker das Thema?

Ich würde gerne eine andere Antwort geben, aber leider überhaupt nicht. Obwohl gerade antisemitische Äusserungen und Übergriffe praktisch weltweit zunehmen, geschieht hierzulande nichts. Im Gegenteil, ausgerechnet die politische Rechte versucht den Antisemitismus als Kampfbegriff aufzunehmen, um gegen die muslimische Minderheit zu hetzen.

Was macht Verschwörungsmythen aus Ihrer Sicht so gefährlich?

Verschwörungsmythen sind selten völlig aus der Luft gegriffen. Sie bieten oft absurde Antworten auf reale Probleme. Es stimmt zum Beispiel zweifellos, dass die Finanzmärkte zu dominant geworden sind, aber es ist natürlich völliger Quatsch, dass dahinter der Plan des Weltjudentums steckt, um die Menschen zu unterwerfen. Es ist völlig richtig, dass private Stiftungen zu viel Einfluss auf die Politik der WHO haben und es stimmt auch, dass die Pharmaindustrie versagt hat, was die Vorbereitung auf die Pandemie angeht. Der Grund dafür ist aber kein Plan, die Menschheit mittels Computerchips zu steuern, sondern schlicht die Logik des profitorientierten Kapitalismus und der Austeritätspolitik nach der Finanzkrise. Wenn sich aber die Demokratie nicht gegen solche selbst verursachten Fehlentwicklungen behauptet, dann werden Verschwörungsmythen weiterwachsen. Und ich sehe gerade in einer Welt in der Krise leider viel negatives Potential.

Zur Person:
Cédric Wermuth ist Nationalrat und seit Oktober 2020 zusammen mit Mattea Meyer Co- Präsident der SP Schweiz. Er hat in Zürich Politikwissenschaft, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Philosophie studiert und lebt heute mit seiner Familie in Zofingen.

Interpellation von Cédric Wermuth
Im Juni 2020 reichte Cédric Wermuth eine Interpellation im Nationalrat ein, die sich mit Antisemitismus in Zusammenhang mit rechtsextremen Verschwörungstheorien befasst. Er stellte dabei unter anderem die Frage, welche Möglichkeiten der Bundesrat sieht, der Verbreitung solcher 
Verschwörungstheorien im Internet entgegen zu wirken und welche Verantwortung er insbesondere bei sozialen Plattformen wie Facebook, Youtube oder Twitter sieht. In seiner Antwort an Wermuth verwies der Bundesrat auf einen ausstehenden Bericht, den er beim Bundesamt für Kommunikation in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht soll die Rolle von Social-Media Plattformen im Bereich der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung, inklusiv des Themas Hassrede beleuchten und abklären, ob es Massnahmen braucht und gegebenenfalls Lösungsansätze vorschlagen. Der Bericht wird im Frühjahr 2021 erwartet. Der Bundesrat erwähnt in seiner Antwort explizit die GRA als Organisation der Zivilgesellschaft, die bereits ein eigenes Meldetool für Rassismus im Internet entwickelt hat.

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10.04.2024

Diskriminierungsbericht 2023

Der neuste Bericht der GRA und GMS zum Jahr 2023 ist da.

Aufgrund der Ausweitung der Diskriminierungsstrafnorm Art. 261bis des Strafgesetzbuches (StGB) in den letzten Jahrzehnten, auch im Hinblick auf Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung, wurde der Bericht umbenannt und heisst nunmehr „Diskriminierungsbericht“ anstelle von „Rassismusbericht“.

Die umfassende Analyse der jährlichen Diskriminierungsfälle in der Schweiz 2023 zeigt einen sprunghaften Anstieg der antisemitischen Vorfälle nach dem Angriff der Hamas und dem nachfolgenden Krieg in Gaza. Damit einher geht eine zunehmende Sichtbarkeit von allgemein diskriminierenden Taten und Hassreden. Die insgesamt 98 registrierten Vorfälle im Jahr 2023 stellen eine Zunahme um mehr als die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr dar.

Was für Schlüsse daraus zu ziehen sind und welche Konzepte im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus helfen können sind im vollständigen Bericht inklusive Interview mit Hannan Salamat vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) und der dazugehörigen Medienmitteilung zu finden.

 

Diskriminierungsbericht 2023

Medienmitteilung Diskriminierungsbericht 2023

 

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Diskriminierungsbericht 2023
Diskriminierungsbericht 2023
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